Redakteur: Roman Golub
2019 war für Tonchirurgie das Jahr der monatlichen Realisation von Musikvideoprojekten. Wir werden in diesem Rückblick die Hintergründe erfahren und Einblick in die Arbeit von Tonchirurgie bekommen. Dieses ist der dritte Teil einer sechsteiligen Interviewserie.
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Teil 3: Mimikry: (Videos: „Zu viel der Worte“ und „Uniform“)
Die Videos befinden sich auf Youtube.
Worum geht es bei Mimikry im musikalischen Zusammenhang von Tonchirurgie?
Frau Dr. Glühfinger: „Der Begriff Mimikry stammt aus der Biologie und beschreibt das Phänomen der Nachahmung z. B. zur Tarnung. Bekannt ist es für die Schutzanpassung wehrloser Tiere, wie z.B. der Schwebfliege (Syrphidae), die wie eine Wespe aussieht.“
In „Zu viel der Worte“ und „Uniform“ wirkt Mimikry als menschliche Dimension in der Benutzung von Sprache und Kleidung. Konkreter geht es dann bei „Zu viel der Worte“ um zwischenmenschliche Beziehungen. Hier spielt das Werkzeug Sprache die Hauptrolle. In „Uniform“ geht es um den Zusammenhang zwischen Äußerlichem und dem Menschen an sich und wo die Grenzen der Mode auszumachen sind.“
Zu viel der Worte
Gibt es tatsächlich ein „Zu viel“ der Worte?
Prof. Dr. Morpheus: „Zwischenmenschliche Beziehungen werden u.a. auch durch Sprache gestaltet. Dieses war der Ausgangspunkt. Die Sprache beherrscht, fordert heraus, drückt Mitgefühl aus, definiert oder lässt frei, hat ein Gefühl dabei, klagt an, verteidigt, vereint, ist vieldeutig, wird missverstanden, erzeugt Verständnis oder auch nicht. Diese Liste ist nicht vollständig.“
Frau Dr. Glühfinger: „Zunächst einmal kommt jetzt das wichtigste Wort zu diesem Video: „Dankeschön“. Wir geben das Dankeschön an alle Beteiligten! Mit einem tatkräftigen Team, das motiviert und mit Spaß dabei ist, kann man chirurgisch alles operieren, was geht! Danke, besonders an Nachtschwester Maria, die uns unterstützt hat und anreiste von wo auch immer sie gerade in der Welt rumturnte (Metal Yoga)! An dieser Stelle erinnere ich mich an 14 Stunden Schneestaufahrt vom Deutschen Rock und Pop Preis 2017!!! Ebenso Danke an Dr. Singheiser für die Kontinuität in den verschiedensten Rollen!!! Und auch Fabilicious (https://www.youtube.com/channel/UCPKr-K2-V71-LJn3L1lIlaw) für seine Gastrolle, die den Soundcharakter des Videos prägt!
Zum Video: Es gibt Bereiche, wo weder die Qualität, noch die Quantität von Worten ausreicht. Darin verbirgt sich die Frage, wie verlässlich Sprache überhaupt ist. Das sollte im Video sichtbar gemacht werden. Ein Paar, welches in eine Krise gerät als Rahmensituation für den Text, der ursprünglich viel länger war, im YouTube Text (unter dem Video) ist er ganz zu lesen.“
Prof. Dr. Morpheus: Nachdem der Song komponiert war, folgte eine Reduktion des Textes, es waren einfach zu viele Worte, auch in diesem Zusammenhang! Ob es ein „Zuviel“ der Worte gibt, hängt von der Situation ab. Manchmal ist auch schon ein Wort zu viel.“ (lacht)
Du warst Sänger von 2008 - 2012 bei Tonchirurgie und nun schon in 3 Hauptrollen wieder in den Videos von Tonchirurgie zu sehen. Wie war der Dreh für dich, Dr. Singheiser?
Dr. Singheiser: „Das Video entstand aus einer Ideensammlung. Der Text zu dem Song ist vielfältig zu interpretieren. Also, was wollten wir zeigen? Die Wahl fiel dann, nach geschätzten 5 Litern Kaffee, auf das Thema „schwierige Beziehung“ in ihrer Dynamik.
Maria war hier wohl die treibende Kraft. Im Gegensatz zu mir, konnte sie die verschiedenen Facetten schauspielerisch sehr gut darstellen. Wir probierten viel aus. Einiges wurde auch verworfen. Anderes kam später spontan dazu. Da Frau Dr. Glühfinger immer wieder neue Ideen hatte, kam auch keine Langeweile auf. Wir hätten bestimmt auch noch 3 weitere Tage drehen können! (lacht) Ich möchte mich an dieser Stelle auch gerne noch einmal bei Frau Dr. Glühfinger und Herrn Professor Dr. Morpheus für die schöne Zeit bedanken. Und natürlich bei Maria! Einfach weil sie so ist wie sie ist!“
Du bist bereits seit 2007 (als Managerin der Spanientour) dabei: Nachtschwester Maria und nun auch nach „Bang your head“ wieder in einem Video von Tonchirurgie zu sehen. Maria, wie erging es dir damit?
Nachtschwester Maria: „Zunächst einmal überrascht Tonchirurgie die Fans immer wieder mit Vielfältigkeit, weil sie nicht unter einer „Bandkäseglocke“ gefangen sein wollen. Gothic, Rock, Metal… Hier geht es nicht darum die Band in irgendwelche musikalischen Kategorien einzuordnen, sondern um die musikalische Freiheit und Vielfältigkeit. Für mich persönlich, eine Kooperation, die eigentlich ein Geschenk ist. Als ich die Band in 2007 in Barcelona kennenlernte, bewegten sie sich mehr im Richtung Dark Rock. Durch die Jahre hat sich die Band weiter entwickelt. Die Gitarren wurden durch Synthesizer ergänzt, die harten Stimmen wurden sanfter.
Tonchirurgie hat immer einen eigenen Klang, die wahre Seele der Band ist in jedem Lied zu erkennen, ganz unabhängig vom Stil. Die Kooperationen mit unterschiedlichen Künstlern machen freien Gestaltungsraum möglich. Freier Raum für Kreativität, Austausch, Neugier und vor allem Spaß! Ich muss mich herzlich bei Tonchirurgie bedanken, nicht nur für das musikalische Geschenk, speziell nach meinem Musikgeschmack. Eine Erinnerung z. B., wo ich ohne Führerschein und ohne Praxis im Autofahren (!) Head bangend den PKW um einen Hügel fahren musste! Das war ein Erlebnis! So ging’s weiter, bei jeder Aufnahme wurde es noch verrückter. Kaffee überall verschüttet beim Head-Banging, plötzlich fällt ein Monster (der aus dem Küchenschrank)... Solche Ideen sind spontan bei dem Dreh entstanden, vieles war geplant, aber die besten Ideen waren durch Brainstorming und Spontanität entstanden. Das Video „bang your head“ hat richtig gerockt!
bang your head
„Zu viel der Worte“, ist ein ernsthafteres Thema, hatte aber ähnliche Produktionsmerkmale.“
Tonchirurgie konnte für dieses Projekt Fabilicious gewinnen. Ein Künstler, der für seine extravaganten, avantgardistischen und sehr energetischen Werke bekannt ist. Wie beschreibst du deine Rolle im Video, ist es ein Off-Kommentar?
Fabilious: „Zunächst einmal sind Kunst und Musik generell zu großen Teilen Off-Kommentare zur Gesellschaft. An der Produktion hat mir gefallen, mal in einer andere Rolle zu schlüpfen. Und mit anderen Leuten was zusammen zu machen, ein Gemälde spielt man ja auch nicht alle Tage! Wie kann man aus dem Rahmen fallen, wenn man noch nicht mal im Bilde war!? “
Wie kann man die Mimikry-Aussage für „Zu viel der Worte“ zusammenfassen?
Frau Dr. Glühfinger: „In der heutigen Zeit, in der Menschen sich überwiegend nur noch verbal auseinandersetzen, zeigt sich Stärke oder Schwäche oft an gekonnter und geschickt eingesetzter Rhetorik. Der Mensch ist durch richtig gewählte Worte auch sehr manipulativ und kann so seine eigene Schwäche als Stärke erscheinen lassen. Dieses menschliche Werkzeug erinnert an die Mimikry im Tierreich. Im Video setzen sich am Ende doch die Gefühle durch - trotz der vielen Worte."
Uniform
In diesem Video ist eine uniformierte, professionelle Tänzerin zu sehen. Was unterscheidet „Uniform“ von anderen Tanzvideos?
Frau Dr. Glühfinger: „Wahrscheinlich der Inhalt! (grinst) Es hat sich eine militärische Modeszene in den Jahren etabliert, dass man meinen könne, es gäbe keine Kriege, Soldaten oder Waffen mehr und nun wäre es einfach „schick“ sich so zu kleiden und abzutanzen.“
Individuelle Kleidung, besondere Make-ups und extravagante Frisuren sind auf schwarzen Festivals ein Teil der Atmosphäre, die eine solche Veranstaltung prägt und wertvoll macht. Was „stört“ euch bei der Uniform?
Prof. Dr. Morpheus: „Uni – form, also: Eine - Form, ist entgegen einer individualisierten Sicht des Menschen, die Welt der Gleichmacherei. Eine Welt von Befehl und Gehorsamkeit, des nicht selber Denkens. Eine Welt der militärischen Gewalt. Eine Welt der Diktatur. Eine Welt eben der Soldaten und Militärs, die wir schon im Video „Soldat“ hinterfragten.
Soldat
Das allein steht im Widerspruch zu der Welt der freien Kunst und Musik. In solchen Zusammenhängen fühlt man sich wie in einem dreißiger Jahre Festball unter Nationalsozialisten, Unwohlsein kommt auf. Kunst, Musik und Literatur wurden zensiert, verbrannt, unpassende Meinungen verfolgt, Menschen ihres künstlerischen Daseins wegen getötet. Und jetzt die Frage: Wie kann man sich in einer Uniform wohlfühlen und feiern? Wir wollten dieses kleine Fragezeichen mit diesem Video platzieren. In diesem Sinn stört die Uniform als symbolischer Werteträger einer Welt, die keine Ehrfurcht vor dem Leben hat. Man braucht ja nur die großen, weltweiten Rüstungsetats zu nehmen. Was könnte man mit dem Geld Schönes machen… und Sinnvolles!“
Aber was bewegt Leute dazu, genau diese Form der Kleidung zu wählen?
Prof. Dr. Morpheus: „Auf Festivals sieht man nun Generäle herumstolzieren, wahrscheinlich artige Familienväter, die die ganze Woche nichts zu sagen haben und nun Oberfeldmarschall sind. Über die Ursachen kann ich nur spekulieren: Fehlendes Geschichtsbewusstsein oder die eigene Unwichtigkeit über das Tragen einer Uniform zu kompensieren, vielleicht funktioniert das auf diese Art? An dieser Stelle wäre die Psychologie besser gefragt… Uniformierte Bands haben zu der uniformierten Modeerscheinung ihren Anteil beigetragen, wahrscheinlich auch mit unterschiedlichen Motiven.“
Diese Mode ist ja etabliert und auch akzeptiert, spricht das nicht für die Uniform?
Frau Dr. Glühfinger: „Die „Modeindustrie“ hat auf den Wunsch nach Machtfantasien reagiert. Die Uniform ist dabei in ihrer symbolischen Wirkung etwas, das nun die Akteure auf oder vor der Bühne mehr oder weniger bewusst übernommen haben, weil sie sich damit sexy und schön oder eben mächtig empfinden. Dabei zeigt es eine Haltung. Diese ist im Kern menschenverachtend. Das spricht gegen die Uniform, Mode hin oder her.“
Neben dem Kriegssymbol Panzer, sind auch Tiere im Video zu sehen.
Frau Dr. Glühfinger: „Die Ameisen sind ein schönes Bild für die unkritische Gleichschaltung und das Fehlen von Individualität. Vielleicht auch für fehlendes Bewusstsein, außerdem sind sie optisch sehr uniform und „tanzen“ im Video sehr gleichförmig. Die Dreharbeiten am Ameisenhaufen dazu waren eine Erfahrung für sich!“
Wie kann man die Mimikry-Aussage für dieses Video zusammenfassen?
Prof. Dr. Morpheus: „Die Fliege zieht sich als Wespe an. Der Mensch zieht sich als Soldat an. Attribute verhelfen zu einer anderen Wahrnehmung durch die Außenwelt. Der Unterschied: Ein Mensch sollte Verstand, Moral, Bewusstsein und Gefühl vor dem Anziehen einschalten! Ein Tier jedenfalls, kann das nicht.“
Macht Tonchirurgie mobil gegen eine Musikszene?
Frau Dr. Glühfinger: „Eindeutig nein! Die Freiheit der Kunst und die Werteordnung in der wir leben, schließt solche Formen ja mit ein. Trotzdem weicht unsere Haltung ab und das findet seinen Ausdruck in dem Video. In Zeiten, wo ekelhAFD auch zur „Mode“ wird, kann man gerne mal seine Kleiderordnung („Faschismus - Haute Couture“) überprüfen, mehr nicht. Als weiterführendes Video zum Thema verweise ich hier nochmal auf das Video „Alternativen“, das wir schon intensiv im ersten Teil der Serie besprochen haben.“
Lässt sich Tonchirurgie 2020 eigentlich durch Corona aufhalten?
Frau Dr. Glühfinger und Prof. Dr. Morpheus gleichzeitig: „Natürlich lassen wir uns nicht aufhalten! Liebes BBU und lieber Roman, vielen Dank für das gelungene Interview!“
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