Redakteur: Roman Golub
2019 war für Tonchirurgie das Jahr der monatlichen Realisation von Musikvideoprojekten. Wir werden in diesem Rückblick die Hintergründe erfahren und Einblick in die Arbeit von Tonchirurgie bekommen. Dieses ist der fünfte Teil einer sechsteiligen Interviewserie.
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Tonchirurgie – Interaktive Musikkultur_Teil 5 Die Zukunft ist jetzt (Videos: „Connectom“, „My blue Ocean“)
„Die Zukunft ist jetzt!“, was verbirgt sich hinter dieser Aussage?
Frau Dr. Glühfinger: Neulich habe ich einen Wecker gestaltet und fotografiert. Statt der üblichen Uhrzeiger, die eine definierte Zeit anzeigen, ist auf dem Wecker das Wort „Now“ zu lesen. Dieses Bild und die Aussage sind symbolisch für eine Haltung dem Leben und dem Umgang mit der Zeit gegenüber. Aus dem „Jetzt“ erwächst alles. Das „Jetzt“ ist von jeder und jedem gestaltbar. Das scheint banal, aber die gegenwärtigen Entscheidungen legen existentielle Richtungen fest. Das betrifft alle Bereiche: persönliche, soziale, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und in unserem Fall auch künstlerische.
Was lange in Science Fiction Filmen zu sehen war ist und wird immer mehr Realität. Wollen wir das wirklich?
Frau Dr. Glühfinger: Zwei Videos beschäftigen sich deshalb mit aktuellen Entwicklungen der Digitalisierung, die das menschliche Dasein schon jetzt und zukünftig elementar verändern wird. Sehen wir den Menschen als unvollständige Maschine, statt Maschinen als unvollständige Menschen? Neben den Veränderungen, die mit dem digitalen Eingriff in den Menschen selber einhergehen, werden auch alle Lebensbereiche zunehmend ins digitale Sein verändert. Konsequent und sehr weit zu Ende gedacht werden wir zukünftig selber Maschinen in einer maschinellen Umwelt sein. Um einer falsch verstandenen Perfektion Willen? Für exorbitanten Komfort? Für vermeintliche Sicherheit oder Unsterblichkeit? Für was auch immer, eine Güterabwägung an dessen Scheideweg wir gerade stehen und die Frage nach Verhältnismäßigkeit und Ethik beschäftigen mich und Tonchirurgie als kunstschaffende Musiker*innen.
Connectom
Wie kam es zu diesem Songtitel?
Frau Dr. Glühfinger: Zunächst einmal sah ich den Arte-Beitrag „Das Rätsel des künstlichen Hirns“. Dieser Dokumentarfilm zeigt eine Zukunftsvision, die mich berührte. Dmitry Itskov, ein russischer Millionär, versucht andere vermögende Leute und Forscher für sein „Projekt 2045“ zu gewinnen. Sein Gehirn, sein Bewusstsein und sein Gedächtnis sollen in diesem Projekt bis 2045 in einen Avatar übertragen sein, das ist das erklärte Ziel, da musste ich sofort an den Film mit Johnny Depp/Transcendence, denken….
Es geht dabei um Unsterblichkeit, „…die Menschen werden keine Krankheiten mehr kennen und werden mehrere Körper haben…“
Nach dem Beitrag entstand der Wunsch das Thema künstlerisch zu verarbeiten und so bekam der Song den Titel.
Connectom ist die Gesamtheit aller Verbindungen im Gehirn.
Wie ist deine Einstellung zu dieser Entwicklung, die im Arte-Beitrag beschrieben wird? Würdest du dich als fortschrittsfeindlich bezeichnen?
Frau Dr. Glühfinger: Was ist der Mensch? Das scheint die zentrale Frage. Diese Forschungsrichtung erscheint mir auf Basis einer Vorwegnahme der Definition des Menschen konstruiert. Der Mensch, bestehend aus „organischer Biologie“ soll in eine anorganische Hardware übertragen werden? Hallo Cyberspace! Es bleiben viele Fragen und Zweifel bei mir übrig! Wie funktioniert z.B. Geist-Transfer?
Auch wissen wir bis heute noch wenig über viele Bereiche und Funktionsweisen im menschlichen Körper, z.B. die Bildentstehung beim Sehen im Gehirn. Wir wissen definitiv nicht viel, bauen aber erstmals drauf los. Versuch und Irrtum?
Wünscht man sich einen anorganischen Körper wirklich? Wie fühlt sich das an, sind die neuen Gefühle darin echt? Was ist mit Sexualität? Anorganische Geburt?
Das biologische Gehirn ist beständig im Umbau. Erfahrungen, Lernprozesse, Umwelteinflüsse, all diese Prozesse münden in eine individuelle Identität, einen besonderen Charakter und eine eigene Psychologie. Wie will man die dynamische Vernetzungsfähigkeit des Gehirns anorganisch realisieren? Was davon schafft in gleichbleibender Qualität die Übertragung in ein anorganisches System? Ghost in the Shell? Alita? Terminator? Zero Theorem? Was für ein Film läuft da?
Ich nehme an, die Unvorhersehbarkeit eines komplexen, lebendigen Systems wird nicht übertragbar sein. Nicht, weil es technisch irgendwann nicht weitgehend möglich wäre, sondern weil das Menschsein wahrscheinlich zwischen den Zeilen der „Hardware“ oder Biologie stattfindet. Ich würde mich als skeptisch bezeichnen. Wir werden das auch nicht erleben, aber um auf den Titel unseres Beitrags zurück zu kommen, die Weichenstellung findet gerade statt. Liebe Grüße an dieser Stelle von Herrn Frankenstein… (Sie lacht)
Was kannst du uns zur künstlerischen Umsetzung im Video berichten?
Frau Dr. Glühfinger: Die Idee war mit der Sichtbarmachung eines Connectoms im menschlichen Kopf zu beginnen. Die organische Plastizität des Gehirns ist durch rückwärts schmelzendes Eis symbolisiert, am Ende entsteht dann ein menschlicher Kopf. Die Verlorenheit des Menschen im Weltall mit all seinen Fragen zu seinem Sein symbolisiert der Asteroid in Form eines Kopfes am Anfang des Videos. Der Text hinterfragt die Haltung der beschriebenen Forschungsrichtung.
Sind die Skulpturen im Computer entstanden?
Frau Dr. Glühfinger: Nein, alles ist handgemacht. Prof. Dr. Morpheus baute sowohl den Asteroiden, als auch den Connectomkopf aus verschiedenen Materialien (Draht, Gips, Wachs, Styropor und Farbe). Den Schmelzprozess zu filmen ging im ersten Versuch schief. Der Kopf verlagerte beim Schmelzvorgang seinen Schwerpunkt, fiel aus dem Bild und zerbrach. Aber beim zweiten Mal hat es dann aber geklappt! Das Ergebnis findet ihr in unserem Video Connectom
My blue Ocean
In diesem Video sieht man puppenhafte Menschen und Haie im Ozean. Sieht so die Zukunft aus?
Frau Dr. Glühfinger: Infolge der Gedanken zu Connectom war es uns ein Bedürfnis, die Zukunft in Form eines Maschinenmensch-Szenarios darzustellen. Unser Versuch war eine entmenschlichte Atmosphäre zu produzieren. Wir kreierten eine Art mechanisches Dasein, Verhaltenssteuerung durch eine symbolische „Alexa“, die in manchen Szenen zu sehen ist. Es sind Maschinenmenschen, die programmiert leben und Verhalten zeigen, das sich in Relikten menschlichen Daseins noch zeigt, aber keinen Sinn mehr macht. Menschmaschinen brauchen keine Nahrung, ihr künstlicher Körper braucht nur elektrische Energie und besteht aus Teilen, von denen jedes Teil ersetzt werden kann. Sie sind nicht mehr organisch. Trotzdem findet ein Essensritual statt, dennoch wird in einem Buch gelesen und die Frauenfigur „empfindet“ Modebedürfnis vor dem Spiegel, in der Bettszene passiert nichts, außer einer Kopfdrehung. Alles Andeutungen von Menschlichkeit, aber sie fehlt und darum geht es.
Was ist mit dem Ozean, wie passt er ins Konzept?
Frau Dr. Glühfinger: Es gibt in diesen programmierten Menschmaschinen etwas wie einen Erinnerungsmoment, eine Sehnsucht nach echter Lebendigkeit. Der Ozean ist hier das Symbol für den Ursprung des Lebens. Zusätzlich sieht man die „eingemauerte Seele“ (D`Arc van Singen) im Nichts und am Ende führt der innere Konflikt zum Systemabsturz. Vielen Dank an dieser Stelle an Michael Krüger, der uns die tollen Tauchaufnahmen überließ!
D`Arc van Singen, der Sänger aus der Dark Rock-Phase von Tonchirurgie, war eine der beiden Hauptfiguren. Wie gelang diese überzeugende Darstellung einer Menschmaschine?
D`Arc van Singen: Mit viel Konzentration und ein wenig Kraft! (Er lacht.)
Was war die schwierigste Szene?
D`Arc van Singen: Alle Szenen in der Darstellung von Freudlosigkeit waren fast gleich schwierig, da die Mimik immer unterdrückt werden musste (abgesehen von einer Szene). Das ist es ja, was Menschen von Maschinen unterscheidet. Die schwierigste und anspruchsvollste Szene war die "Spiegelszene". Für mich als Darsteller ein körperlicher Kraftakt, da der Spiegel zu niedrig montiert war, so dass ich die gesamte Szene leicht gehockt drehen musste. Workout beim Filmdreh!
Ist das Video eine technikfeindliche Kritik für Dich?
D`Arc van Singen: Ich sehe das Video als gesellschaftlichen Spiegel von Menschen im Miteinander, aber auch von Menschen und Maschinen im Alltag. Es gibt genug statische und erkaltete Beziehungen zwischen Menschen insbesondere vor dem Hintergrund des Vormarsches der Technik in das tägliche Leben und damit auch in die Beziehung. Auf der anderen Seite zeigt das Video aber auch, dass es Lebewesen gibt, die auf derlei Technik nicht angewiesen sind und dennoch von der Technik bedroht werden.
Wie technisch darf die Welt werden und wo sollten Grenzen sein?
D`Arc van Singen: Ich denke, dass die Grenzen hier längst überschritten wurden und sich der Technikvormarsch nicht mehr aufhalten lässt. Aber wer bin ich, dass ich mir anmaße zu bestimmen, wann die Grenze erreicht war. Schon in der Steinzeit oder erst in der Industriellen Revolution? Was wäre die Welt heute ohne Maschinen, ohne Computer und ohne Internet?
Vielleicht säßen wir ganz romantisch gemeinsam um ein Lagerfeuer und erzählten uns Geschichten oder sängen Lieder, statt jeder für sich in einem Café mit dem Lärm der nahen sechsspurigen Straße, ein Smartphone in der Hand und immer in Kontakt mit "Freunden" um sich lustige Clips oder Fotos zu schicken…
Frau Dr. Glühfinger: Liebes BBU-Team und lieber Roman, vielen Dank für die Interviewreihe! Wir freuen uns schon auf Teil 6 („Mythen und Märchen“) im Januar 2021!
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